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Die Interviews
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15
Familienangehörigen. Ich fand jedoch heraus, dass meine
komplette Familie, bestehend aus meinem Vater, mei-
ner Mutter und meinen vier Geschwistern, in Auschwitz
ermordet worden war.
Nun ganz auf mich allein gestellt beschloss ich im fol-
genden Jahr, nach Palästina auszuwandern, wo ich auf die
Gründung eines jüdischen Staates hoffte. Da die Man-
datsmacht Großbritannien in Palästina zu dieser Zeit ein
Einreiseverbot für Juden verhängt hatte, kam ich über
Ungarn, Österreich und Italien illegal in das Land. Trotz
meiner Vergangenheit und der Tatsache, dass ich keine
normale Jugend hatte, gelang es mir, ein neues Leben in
Israel zu beginnen. Ich habe geheiratet und zwei Kinder
und vier Enkelkinder bekommen.
Obwohl ich so viel Schreckliches durchleben musste, hege
ich heute keinen Hass gegenüber den Deutschen. Sollte
ich jedoch heute auf einen Nazi treffen, würde ich ihn fra-
gen: „Was habe ich euch Schlechtes getan, dass ihr uns
Juden vernichten wollt?“
Bis heute leide ich auch körperlich unter den Folgen
der Verfolgung und Verschleppung in die Konzentrations-
lager, doch ich versuche trotz allem, die letzten Jahre mei-
nes Lebens im Altersheim zu genießen. Vergessen aber will
ich die Ereignisse nicht: Man sollte sich an die Gescheh-
nisse des Holocaust erinnern, damit die schlechten Zeiten
nie wiederkommen.
Protokoll: Bengisu Karabacak, Elisabeth Popov
Hanna Avrutzky: Es ging nur ums Überleben!
Hanna Avrutzky (geb. Mandelberger) kam 1931 inWarschau
als Tochter eines wohlhabenden Lederwarenhändlers und sei-
ner hoch angesehenen Frau zur Welt. Sie war das älteste Kind
und eines der wenigen Familienmitglieder, das den Holo-
caust und den Krieg überlebte. Aufgrund des Kriegsausbruchs
konnte sie nur die erste Klasse vollenden, kam aber kurze Zeit
später nach dem Aufstand imWarschauer Ghetto in das Klos-
ter St. Ursula, wo sie ihre Schulausbildung abschloss. Schon
in sehr jungem Alter beschloss sie, sich nach dem Krieg einer
jüdischen Organisation anzuschließen, die ihr die Auswan-
derung nach Palästina ermöglichen sollte. Nach einem lan-
gen Fußmarsch über Tschechien bis nach München befand sie
sich mehrere Monate auf dem Schiff „Exodus“, mit dem sie
vergeblich versuchte, in Frankreich und Spanien Schutz zu
finden. Letztendlich kam sie jedoch in ein Internierungsla-
ger in Hamburg. Durch eine andere Organisation gelang ihr
einige Zeit später die Einreise nach Palästina. Heute lebt sie
mit ihrem Mann in Israel, von wo aus sie die ganze Welt an
ihrem Schicksal teilhaben lassen möchte.
Er kam als gebrochener Mann zurück
Ich wurde 1931 in Warschau als älteste Tochter eines
Lederwarenhändlers geboren. Meine Familie war wohlha-
bend und meine Mutter hatte mehrere Hausangestellte.
Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebte ich mit
sieben Jahren. Ich kann mich immer noch an den Tag
erinnern, als es nach der Besetzung Polens durch Deutsch-
land an der Tür klopfte. Meine Mutter öffnete mit meiner
kleinen Schwester auf dem Arm und mir am Rockzipfel
die Tür und erblickte zwei Gestapo-Männer mit riesigen
Hunden. Die Männer waren auf der Suche nach mei-
nem Vater, der allerdings nicht zu Hause war. Diese Tat-
sache jedoch hielt die Gestapo-Männer nicht davon ab,
unsere Wohnung zu zertrümmern, die Kissen und Sofas
aufzuschlitzen und Geschirr aus Porzellan zu zerbrechen.
In dieser Situation fühlte ich mich in das Märchen Rot-
käppchen versetzt, denn ich hatte viel mehr Angst vor
den Hunden als vor den Gestapo-Offizieren. Aus Angst
versteckte ich mich hinter der Wanduhr und beobachtete,
wie die Federn wie Schneeflocken auf den Boden fielen.
Beim Verlassen der zerstörten Wohnung hinterließen die
Männer einen Zettel für meinen Vater, der sich so bald wie
möglich bei ihnen melden sollte. Als mein Vater von der
Hanna Avrutzky
Foto: Anja Schoeller