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Die Interviews
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15
Ich träume polnisch
Meine Schwester war damals die einzige Familie, die ich
noch hatte. Über meinen Bruder habe ich nur von einem
Cousin nach dem Krieg gehört: „Er konnte nicht gehen.
Er war schwach. Er hat sich hingesetzt und er hat gute
Schuhe gehabt, da hat man ihm die Schuhe abgenom-
men.” Weder von meiner anderen Schwester noch von
meiner Mutter habe ich ein Bild. Für mich war meine
Heimat Polen. Ich werde Ihnen etwas sagen: Ich träume
polnisch. Und Polnisch kann ich sehr gut. Auch schrei-
ben. Die anderen Sprachen sind Fremdsprachen für mich
und ihr seht, wie ich deutsch spreche. Englisch kann ich
vielleicht besser als Deutsch. Aber am schlimmsten ist es
mit Hebräisch, weil das ein ganz anderes ABC hat, und
das habe ich nicht als Kind gelernt.
Es gibt nur eine Sache, die mir wichtig ist: Dass so etwas
nie wieder passieren soll! So etwas soll nie wieder passie-
ren! Man kann sich nicht vorstellen, was wir erlitten haben.
Dass Leute anderen Leuten so etwas antun können!
Hier in Israel bin ich sehr glücklich.
Protokoll: Fiona Danner, Franziska Schwendner
Lya Dagan: Ich bin ganz allein nach Israel
gekommen
Lya Dagan wurde 1926 inWien geboren. Mit zwölf Jahren kam
sie mit einer Kinder- und Jugend-Alija nach Palästina, ohne ihre
Eltern oder ihren Bruder. Dort lebte sie vier Jahre in einem Kin-
derheim. Sie arbeitete in verschiedenen Tätigkeiten und bezahlte
mit dem ersparten Einkommen den Besuch eines Lehrersemi-
nars. Sie brachte es schließlich bis zur stellvertretenden Schuldi-
rektorin. Bis 1942 erhielt sie noch Briefe von ihren Eltern, ihr
Bruder kam später auch nach Israel. Lya Dagan hat ihre Eltern
nie wiedergesehen. Sie lebt heute in einem Altenheim inTel Aviv;
über ihre Freunde im Pinchas Rosen Parents’ Home kam sie
zu unserem Interviewprojekt, an dem sie sich beteiligen wollte.
„Die Lya kann doch gar nichts dafür, dass sie Jüdin ist.“
Ich bin 1926 in Wien geboren. Wir haben dort in der
Mariahilferstraße gewohnt, das ist eine bekannte Straße.
Als ich noch in einer christlichen allgemeinen Schule
war, gab es einige Mädchen, die nett zu mir waren und
gesagt haben: „Die Lya kann doch gar nichts dafür, dass
sie Jüdin ist.“. Aber die meisten Kinder waren anderer
Meinung und haben mich nicht gemocht, weil ich Jüdin
war. In meiner Klasse waren außer mir nur noch zwei oder
drei andere jüdische Kinder.
Die Nazis sind sehr rasch gekommen. Ich weiß noch,
wie mein Vater die Rücktrittsrede von Bundeskanzler
Schuschnigg
gehört hat, in der er sagte: „Meine Herren,
ich bin bereit. Gott schütze Österreich.“ Dann haben die
Offiziellen angefangen, die
Kruckenkreuze
an ihren Uni-
formen durch Hakenkreuze zu ersetzen.
Ich wollte nur nach Israel
Man hat sich damals sehr bemüht, jüdische Kinder aus
Deutschland und Österreich wegzuschicken. Eine frühere
Lehrerin von mir ist 1937 nach England ausgewandert
und sie wollte unbedingt, dass ich mitkomme. Aber meine
Mutter wollte das nicht, weil sie Angst hatte, man würde
mich dann adoptieren. Meine Lehrerin meinte, das würde
nicht passieren. Sie erzählte mir, dass ich bei ihr in Lon-
don Klavier spielen lernen würde, und hat mir viel von
England berichtet. Aber das hat mich nicht überzeugt, ich
wollte nach Israel. Ich wollte nur nach Israel.
Allein nach Israel
Als zwölfjähriges Mädchen bin ich von zu Hause weg, das
war ein Jahr vor dem Krieg. Ich hatte noch einen Bruder,
der war zwei Jahre älter als ich, aber er konnte nicht mit
mir mitkommen. Also bin ich allein, ohne Eltern oder
andere Verwandte, mit 50 anderen Kindern ins Land
gekommen. Wir kamen alle aus Österreich, die meisten
aus Wien. Ich kannte keinen der anderen vorher richtig,
Lya Dagan
Foto: Anja Schoeller