Table of Contents Table of Contents
Previous Page  29 / 48 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 29 / 48 Next Page
Page Background

Die Interviews

29

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

Ich träume polnisch

Meine Schwester war damals die einzige Familie, die ich

noch hatte. Über meinen Bruder habe ich nur von einem

Cousin nach dem Krieg gehört: „Er konnte nicht gehen.

Er war schwach. Er hat sich hingesetzt und er hat gute

Schuhe gehabt, da hat man ihm die Schuhe abgenom-

men.” Weder von meiner anderen Schwester noch von

meiner Mutter habe ich ein Bild. Für mich war meine

Heimat Polen. Ich werde Ihnen etwas sagen: Ich träume

polnisch. Und Polnisch kann ich sehr gut. Auch schrei-

ben. Die anderen Sprachen sind Fremdsprachen für mich

und ihr seht, wie ich deutsch spreche. Englisch kann ich

vielleicht besser als Deutsch. Aber am schlimmsten ist es

mit Hebräisch, weil das ein ganz anderes ABC hat, und

das habe ich nicht als Kind gelernt.

Es gibt nur eine Sache, die mir wichtig ist: Dass so etwas

nie wieder passieren soll! So etwas soll nie wieder passie-

ren! Man kann sich nicht vorstellen, was wir erlitten haben.

Dass Leute anderen Leuten so etwas antun können!

Hier in Israel bin ich sehr glücklich.

Protokoll: Fiona Danner, Franziska Schwendner

Lya Dagan: Ich bin ganz allein nach Israel

gekommen

Lya Dagan wurde 1926 inWien geboren. Mit zwölf Jahren kam

sie mit einer Kinder- und Jugend-Alija nach Palästina, ohne ihre

Eltern oder ihren Bruder. Dort lebte sie vier Jahre in einem Kin-

derheim. Sie arbeitete in verschiedenen Tätigkeiten und bezahlte

mit dem ersparten Einkommen den Besuch eines Lehrersemi-

nars. Sie brachte es schließlich bis zur stellvertretenden Schuldi-

rektorin. Bis 1942 erhielt sie noch Briefe von ihren Eltern, ihr

Bruder kam später auch nach Israel. Lya Dagan hat ihre Eltern

nie wiedergesehen. Sie lebt heute in einem Altenheim inTel Aviv;

über ihre Freunde im Pinchas Rosen Parents’ Home kam sie

zu unserem Interviewprojekt, an dem sie sich beteiligen wollte.

„Die Lya kann doch gar nichts dafür, dass sie Jüdin ist.“

Ich bin 1926 in Wien geboren. Wir haben dort in der

Mariahilferstraße gewohnt, das ist eine bekannte Straße.

Als ich noch in einer christlichen allgemeinen Schule

war, gab es einige Mädchen, die nett zu mir waren und

gesagt haben: „Die Lya kann doch gar nichts dafür, dass

sie Jüdin ist.“. Aber die meisten Kinder waren anderer

Meinung und haben mich nicht gemocht, weil ich Jüdin

war. In meiner Klasse waren außer mir nur noch zwei oder

drei andere jüdische Kinder.

Die Nazis sind sehr rasch gekommen. Ich weiß noch,

wie mein Vater die Rücktrittsrede von Bundeskanzler

Schuschnigg

gehört hat, in der er sagte: „Meine Herren,

ich bin bereit. Gott schütze Österreich.“ Dann haben die

Offiziellen angefangen, die

Kruckenkreuze

an ihren Uni-

formen durch Hakenkreuze zu ersetzen.

Ich wollte nur nach Israel

Man hat sich damals sehr bemüht, jüdische Kinder aus

Deutschland und Österreich wegzuschicken. Eine frühere

Lehrerin von mir ist 1937 nach England ausgewandert

und sie wollte unbedingt, dass ich mitkomme. Aber meine

Mutter wollte das nicht, weil sie Angst hatte, man würde

mich dann adoptieren. Meine Lehrerin meinte, das würde

nicht passieren. Sie erzählte mir, dass ich bei ihr in Lon-

don Klavier spielen lernen würde, und hat mir viel von

England berichtet. Aber das hat mich nicht überzeugt, ich

wollte nach Israel. Ich wollte nur nach Israel.

Allein nach Israel

Als zwölfjähriges Mädchen bin ich von zu Hause weg, das

war ein Jahr vor dem Krieg. Ich hatte noch einen Bruder,

der war zwei Jahre älter als ich, aber er konnte nicht mit

mir mitkommen. Also bin ich allein, ohne Eltern oder

andere Verwandte, mit 50 anderen Kindern ins Land

gekommen. Wir kamen alle aus Österreich, die meisten

aus Wien. Ich kannte keinen der anderen vorher richtig,

Lya Dagan

Foto: Anja Schoeller