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Die Interviews
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15
Arbeit kam, war er unentschlossen und misstrauisch bezüg-
lich des Treffens, ließ sich jedoch von uns überreden, doch
hinzugehen. Wir waren uns sicher, dass nichts Schlimmes
passieren würde, da mein Vater ein sehr hohes Ansehen in der
Stadt besaß. Wir bekamen ihn die nächsten drei Tage nicht zu
Gesicht und als mein Vater endlich nach Hause zurückkehrte,
war er nicht mehr wiederzuerkennen. Es war ihm anzusehen,
dass er gefoltert und gequält worden war. Seine Fingernägel
waren ihm herausgerissen und ein Auge ausgestochen wor-
den. Er kam als gebrochener Mann zurück und war nicht
mehr in der Lage, ein Vater für mich zu sein. Die Gestapo-
Männer brachten ihn in diesen drei Tagen psychisch um,
sodass wir ihn von nun an umsorgen und pflegen mussten.
Nach dem Interview
Foto: Christian Oberlander
Erwischt wurde ich dabei nie
Im Warschauer Ghetto war ich schon mit zehn Jahren
ein aktiver Teil des dortigen Widerstands. Mit elf Jahren
schlich ich mich mit zwei Jungen täglich aus dem Ghetto,
um in der Stadt nach Essen für unsere Familien zu suchen.
Dabei hatte ich einen deutlichen Vorteil gegenüber den
Jungen. Ich hatte mit hellen Augen und Haaren nicht das
Aussehen einer Jüdin; deshalb war meine Zugehörigkeit
nicht sofort feststellbar. Die beiden Jungen wären durch
die Beschneidung als Juden erkennbar gewesen und hät-
ten dadurch umgebracht werden können. Jeden Morgen
kletterten wir, auf der Suche nach Essen, durch ein Loch.
Dann füllten wir unsere selbst genähten Säcke mit allem,
was nicht niet- und nagelfest war. Abends trafen wir uns,
um das Essen auf unsere Familien aufzuteilen. Dank uns
sind wir nicht verhungert. Nach einigen Tagen stieß ich
auf einen Gemüsemarkt. Dort wartete ich, bis die Bau-
ern kurz weg waren und stahl dann Obst und Gemüse.
Erwischt wurde ich dabei nie. Nur einmal lief etwas schief:
Wie jedes Mal stand einer der Jungen mit mir hinter dem
Loch des Zauns und der andere vor dem Loch. Durch ein
leises Pfeifen des Letzteren wusste ich, dass die Luft rein
war. Dann bin ich durchgeschlüpft. Als ich vom Stehlen
zurückkam, versteckte ich mich hinter einem Müllberg
und wartete auf das Zeichen. Jedoch hörte ich es an diesem
Tag nicht. Dann sah ich zwei Gestapo-Offiziere, polnische
Polizisten und Schäferhunde vorbeilaufen. Einer von den
Hunden flippte aus, begann zu bellen und zog die Offiziere
zum Loch. Ich beobachtete alles mit angehaltenem Atem.
Plötzlich hörte ich einen der beiden Jungen schreien und
dann Schüsse fallen. Der Hund beruhigte sich durch eine
Belohnung, was mir das Leben rettete, und die Offiziere
gingen an mir vorbei. Daraufhin nahm ich meinen ganzen
Mut zusammen, schlüpfte durch das Loch ins Ghetto und
versteckte das Essen zu Hause. Gleich danach rannte ich
zum Loch zurück und suchte vergeblich nach der Leiche
des Jungen. Auch der andere Junge war unauffindbar und
bis heute weiß ich nicht, was mit ihnen passiert ist.
Wir wollten ihre Leiche jedoch nicht vor das Haus werfen
Die Verhältnisse im Ghetto waren furchtbar: Krankheiten
wie Typhus breiteten sich aus und kosteten Tausenden das
Leben, darunter auch meiner Großmutter. Selbst meine
gebildete Mutter war mit der Krankheit meiner Groß-
mutter überfordert und fragte mich um Rat, wie man die
Erkrankung geheim halten kann. Denn wenn man her-
ausgefunden hätte, dass es einen Erkrankten gibt, wäre
das Haus geräumt worden. Deshalb kümmerte sich meine
Mutter um Großmutter, die wir hinter einem Schrank ver-
steckten. Im Gegenzug versorgte ich meine kleine Schwes-
ter und meinen Vater, der durch die Folter der Gestapo
angeschlagen war. Zwei Tage darauf ist schließlich meine
Großmutter gestorben, wir wollten ihre Leiche jedoch
nicht vor das Haus werfen, sondern mit Würde beerdigen.
Das war allerdings zu dieser Zeit nicht möglich. Darum
wickelten wir die Tote in eine Decke und trugen sie nach
der Sperrstunde in ein zerbombtes Haus. Dort versprach
ich meiner Großmutter, sie nach dem Krieg zu finden und
königlich zu bestatten. 1986, nachdem sich die Lage in
Russland entspannte, reiste ich mit meinem Mann nach
Warschau, wo ich versuchte, meine Großmutter wieder-
zufinden, jedoch nicht einmal das zerbombte Haus fand.
Papst Johannes Paul II.
Nach dem Warschauer Ghetto-Aufstand floh ich mit Hilfe
eines gefälschten Passes in ein Kloster namens St. Ursula. Das
Kloster konnte ich übrigens nur besuchen, da ich in den von