![Show Menu](styles/mobile-menu.png)
![Page Background](./../common/page-substrates/page0033.jpg)
Die Interviews
33
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15
Bekannten gefälschte Papiere rund drei Jahre älter war. Dort
wusste niemand, dass ich Jüdin war. Erst als ich 50 Jahre
später zu Besuch kam und den Menschen im Kloster meine
Geschichte erzählte, realisierten diese, dass ich Jüdin war.
Das Kloster, das auch gegen das Naziregime rebellierte,
wurde von einem Ordensangehörigen namens Karol Józef
Wojtyła geleitet, dem späteren Papst Johannes Paul II. Im
Kloster sollte ich, wie für Nonnen meines Alters typisch,
das Gymnasium besuchen. Das war jedoch sehr schwer für
mich, da ich nur die erste Klasse besucht hatte. Der Priester,
der inzwischen eine hohe Position in Krakau hatte, unter-
stützte mich die ganze Zeit über, stand mir immer zur Seite,
half und verdeutlichte mir, wie wichtig das Studium ist.
In ihrem Fotoalbum bewahrt Hanna Avrutzky ein Bild von ihrer Begegnung
mit Papst Johannes Paul II. auf.
Foto: Christian Oberlander
Das Schlimmste: Sie hatte nur noch ein Bein
Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943, wäh-
rend meiner Flucht ins Kloster, verlor ich meine Mutter
und meine Schwester aus den Augen. Ich wusste sehr lange
Zeit nicht, was mit ihnen geschehen war. 1946 tauchte
plötzlich ein Mann auf, der behauptete, er stamme von
einer Organisation, die Familien nach dem Krieg wieder
zusammenführt, und dass er über meine wahre Identität
Bescheid wisse. Er teilte mir mit, dass meine Mutter, die
überlebt hatte, mich bereits zwei Jahre lang suche und ich
deshalb mit ihm kommen soll. Als ich verneinte, drohte
er, meine wahre Identität dem Kloster preiszugeben. Zu
diesem Zeitpunkt fühlte ich mich in das Kloster integriert
und als Christin, sodass die Drohung wirkungsvoll war.
Er brachte mich zu einem Waisenhaus, in dem eine
Steintreppe nach oben führte. Ich sah dort eine Gestalt ste-
hen, von der ich sofort innerlich wusste, dass es meine Mut-
ter war. Das konnte ich aber trotzdem nicht glauben, denn
ich hatte meine Mutter als schöne und beeindruckende
Frau in Erinnerung. Doch die Frau, die ich sah, war alt,
hatte weiße Haare, viele Falten und das Schlimmste war,
dass sie nur ein Bein hatte. Die Frau rief mir zu: „Meine
Hanuschka“, und versuchte loszustürmen, wobei sie völlig
vergaß, dass sie nur noch ein Bein hatte. Deshalb stürzte
sie die Treppe hinunter und landete vor meinen Füßen, wo
sie mich anflehte, bei ihr zu bleiben. Sie erzählte mir, was
mit unseren Verwandten passiert war. Darunter auch die
Geschichte meines Vaters: Er wurde in Treblinka ermor-
det. Beim Ausstieg aus dem Zug, mit dem er in ein Lager
kam, fiel er aus gesundheitlicher Schwäche auf die Rampe.
Man hat ihm noch nicht einmal das Gas gegönnt, denn er
wurde von einem deutschen Schäferhund tot gebissen, als
er auf der Rampe lag. Meine Mutter bestand auch darauf,
dass ich bleiben soll, bis wir meine kleine Schwester Mari-
scha gefunden hatten. Wir fanden sie tatsächlich.
Unter solchen Bedingungen schließt man keine Freund-
schaften
Noch im selben Jahr planten wir, meine Familie und ich,
unsere Abreise aus Polen. Diese wurde uns durch einen Leiter
einer damaligen verdeckt operierenden jüdischen Organisa-
tion ermöglicht. DerMann führte uns zu Fuß überTschechien
nachMünchen. Dort wurden wir in Auffanglager verteilt und
ich kam in eine zionistische Jugendgruppe. 1947 haben wir
das mitgemacht, was als
Exodus
bekannt wurde. Wir fuhren
mit einem Schiff, auf dem schlimme Zustände herrschten,
zunächst nach Frankreich, wo wir nicht willkommen waren,
dann nach Gibraltar in Spanien, wo man uns auch nicht
haben wollte, und landeten schließlich in Hamburg.
Zu dieser Zeit entwickelte sich eine jüdische Organi-
sation, die versucht hat, Juden nach Palästina zu bringen.
Durch diese Organisation gelang letztendlich nach fünf
Monaten die Einreise nach Palästina.
Als ich 1948 in Palästina ankam, konnte ich weder
hebräisch noch jiddisch, dafür aber polnisch, deutsch und
englisch sprechen. Zu dieser Zeit wurden Vorbereitungen
für den Befreiungskrieg getroffen. Ich musste also Soldatin
werden. Während meiner Dienstzeit arbeitete ich in einer
Munitionsfabrik. Als ich einmal krank wurde, sprang eine
Freundin für mich ein, unglücklicherweise gab es an diesem
Tag eine Explosion, die meiner Freundin das Leben kostete.
In dieser Fabrik lernte ich auch meinen Mann kennen,
der die Liebe meines Lebens ist.
Protokoll: Fiona Danner, Elisabeth Popov, Franziska Schwend-
ner, Bianca Roth