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Die Interviews

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

len, von manchen nicht, und dann haben sie auch noch

ein paar Leute mitgenommen. Der eine Deutsche hat

gesagt, wir sollen nach rechts gehen und ein anderer hat

gesagt, wir sollen nach links gehen, also sind wir in den

Keller gegangen.

Es war ein Freitag und freitagabends zündet eine ver-

heiratete jüdische Frau zwei Kerzen für Sabbat an. Wenn

man heiratet, ist es ein sehr schönes Geschenk, Leuchter

zu bekommen, und das ist etwas, das jeder zu Hause hat.

An diesem Abend hatten wir Angst, die Kerzen anzuzün-

den, weil sie uns dann gesehen hätten. Also haben wir

die Kerzen nicht angezündet und die Nacht im Keller

verbracht. Am nächsten Tag, einem Samstag, sind wir

aufgestanden und es war ein großes Durcheinander, weil

keiner gewusst hat, was er machen soll. Jeder hat nur

gewusst, dass es schlecht ist. Und die Leute, die in den

Straßen waren, die wurden von den Soldaten angehal-

ten. Manche Leute haben Bärte gehabt, denen hat man

den Bart abrasiert und die Männer haben dabei sehr

geschrien. Die meisten Polen haben kein Wort Deutsch

verstanden. Bei den Juden gab es viel mehr, die Deutsch

konnten. Und dann war da dieser Balagan. Wenn ich

Balagan sage, meine ich ein Durcheinander, bei dem

keiner wusste, was er machen soll. Bis Mittwoch in der

Nacht sind die Soldaten gekommen. Ab Freitag sind sie

gegangen und sie haben die meisten Männer mitgenom-

men. Wir wussten nicht, wohin, und wir wussten nicht,

warum. Jeder hat etwas mitgenommen und da passier-

ten in der Hektik komische Dinge: Ich hatte z.B. einen

Cousin, der hat in der Aufregung eine Glühbirne mitge-

nommen.

Lodz wird „judenrein”

Viele Leute sind Richtung Warschau gegangen, weil man

gedacht hat, dass die Deutschen nicht dorthin kommen

werden. Doch nach ein paar Tagen sind die meisten

zurückgekommen, außer denen, die von den Deutschen

gefangen genommen worden waren. Wir sind nach Lodz

gegangen und ab September haben wir dort gelebt. Wir

wohnten bei einem Onkel, der eine schöne Wohnung

außerhalb des Ghettos hatte, und wir sind alle zu ihm

gegangen, weil wir keine anderen Bekannten dort hatten.

Damals war ich 13 Jahre alt.

Am 30. April 1940 sollte Lodz „judenrein” sein bzw.

alle jüdischen Bewohner in das Ghetto gepfercht werden.

Und so geschah es dann auch. Es war schon alles vorberei-

tet. Man hatte den Leuten schon eine Wohnung gesucht

und zum Beispiel zwei verschiedene Familien zusammen

wohnen lassen. Und ich muss sagen, es war ziemlich gut

organisiert. Die Deutschen können das. Sie können auch

andere Sachen, aber sie haben das gut organisiert.

Was drinnen war, weiß Gott allein

Dann hat die Schule begonnen und ich bin wieder in die

Schule gegangen. Wer in die Schule gegangen ist, hat eine

Suppe bekommen und so etwas, es hat Kotelett geheißen.

Was drinnen war, weiß Gott allein. Und dann hat man das

Kotelett gestrichen und wir bekamen nur noch die Suppe.

Denn das Essen war sehr knapp. Ich kann mich nicht mehr

erinnern, vielleicht sage ich es nicht richtig, aber es gab 150

Gramm Brot pro Tag pro Person. Das ist sehr wenig.

Und es wurden verschiedene Fabriken gebaut. Die

meisten haben für die Armee gearbeitet. Mich hat man für

einige Zeit in eine Leder- und Sattlerfabrik beordert. Ich

wusste damit nichts anzufangen und ich habe mich sehr

bemüht, wieder in die Schule zu kommen, und ich bin

dann auch wieder in die Schule gegangen. Und dann hat

man uns keine Suppe mehr gegeben und man musste mit

leerem Magen lernen. Der Unterricht war wie vor dem

Krieg. Wir haben Polnisch und Deutsch gelernt und ich

glaube auch Jiddisch, aber kein Englisch und kein Fran-

zösisch. Und zwischendurch hat man ab und zu Leute aus

dem Ghetto deportiert und wir wussten nicht, was mit

denen passiert ist.

Da haben wir sie im Bett versteckt

Das habe ich noch gut im Kopf: 1942, so im September,

mussten alle Ghettobewohner auf die Straße zum

Appell

.

Wir wussten nicht, was das für uns bedeutet. Ich hatte

eine Schwester, die 23 Jahre alt und tuberkulosekrank war.

Sie konnte nicht hinuntergehen, weil wir wussten, dass

Rena Wiener

Foto: Anja Schoeller