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„Und du siehst, dass du alleine bist.“

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

beiseite geschobene Tatsache nahe, dass solche Verbre-

chen gegen die Menschlichkeit geschehen sind und, da sie

geschehen sind, auch weiterhin möglich sind. Wenn wir

uns der Realität dieser Verbrechen, in denen den Opfern

der Status des Mitmenschen genommen wird, nicht mehr

verschließen können, spüren wir erst, dass dieses Ver-

trauen in den selbstverständlichen Status als Mitmensch

eine basale Grundlage menschlichen Zusammenlebens

darstellt, und dass dieses Vertrauen auf wechselseitige

Anerkennung als Mitmensch eine Illusion ist. 

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Fast alle hier zitierten Berichte über die Verfolgungsge-

schichten beschreiben den plötzlichen und unvorstellba-

ren Schrecken, dass die Mitbürger und Nachbarn in Nazi-

Deutschland binnen kürzester Zeit zu vernichtenden

Verfolgern wurden, und den daraus folgenden, bis heute

währenden Verlust an Vertrauen in die Welt, in Gott, in

die Zukunft. Die alten Menschen verschärfen diese Erfah-

rung eines unkittbaren Bruchs im Weltvertrauen, indem

sie von ihrer schönen Kindheit sprechen, die durch die

NS-Verfolgung ein abruptes Ende fand. 

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6 Jörn Rüsen: Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, In: Burkhard

Liebsch/Jörn Rüsen: Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001,

S. 63–84.

7 „Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit …“ (Lea Jacobstamm) „An mei-

ne Kindheit habe ich schöne Erinnerungen.“ (Inge Stern) „Ich hatte ein

sehr schönes Leben.“ (Leopold Yehuda Maimon) „Seine Kindheit verlief

glücklich und friedlich, bis er sein 11. Lebensjahr erreicht hatte.“ (Jitzchak

Bronstein)

Die Berichte der Überlebenden konfrontieren mit der

Frage: Wie können Menschen ihren Mitmenschen so

etwas antun, wie ist das möglich? „Man kann sich nicht

vorstellen, was wir erlitten haben. Dass Leute anderen

Leuten so etwas antun können!“ (Rena Wiener)

Die Jugendlichen reagieren sehr stark auf die Konfron-

tation mit der Grenzenlosigkeit von Destruktivität: „Ich

war von den Gesprächen dermaßen schockiert, davon,

dass Menschen so mit anderen Menschen umgehen kön-

nen, dass für mich gar nicht die Möglichkeit bestand,

mit jemandem darüber

zu sprechen.“ (Myrjam

Willberg) „Das Erlebte

der Interviewpartner muss

erstmal zu einem durch-

dringen: Man muss erst

einmal einige Tage darüber

nachdenken, bevor man es

wirklich begreifen kann,

dass dieser Mensch mit

dem man gerade spricht,

die unmenschlichen Grau-

samkeiten der Nazis über-

lebt hat!“ (Jonas Röder)

Sensibel und präzise

drücken die Schülerinnen

und Schüler hier aus, wie

die Konfrontation mit den

Schreckenserfahrungen

der Interviewpartner auch

sie selber aus ihren eige-

nen Sicherheiten herauswirft. Sie fühlen, dass vertraute

Sprach- und Verstehensmuster nicht taugen und das

Erfahrene klein reden würden. 

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Offenbar entwickelten sich während der Interviews sehr

starke Gefühle: Als die Menschen im Altenheim von ihren

Schicksalen erzählt haben, haben wir mit ihnen mitge-

fühlt, mitgelitten.“ (Jessica Erli) Die begleitenden Lehrer

führen die „starke emotionale Verbindung“ auch darauf

zurück, dass die Interviewten zum Zeitpunkt ihrer Schre-

ckenserfahrungen im selben Alter wie die interviewenden

Schülerinnen und Schüler waren und sich vielleicht deshalb

besonders stark mit dem Schicksal der damals jungen Juden

und Jüdinnen identifizierten. Aber nicht nur die Jugendli-

chen, alle „spürten die Ungerechtigkeit, Grausamkeit, Will-

8 Eine Schülerin versucht diese Einordnung in vertraute Kategorien, sie

spricht von den „Horrorgeschichten“ und der „mentalen Stärke“, die man

zu ihrer Verarbeitung benötige (Sandra Lörentz).

Foto: Christian Oberlander