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„Und du siehst, dass du alleine bist.“

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

esse, die Lebensgeschichten dieser Menschen zu erfahren

und weiterzugeben.“

So viel Wärme und Nähe die alten Menschen für die

jungen Deutschen aufbringen, Wünsche für ein gutes

Leben mit auf den Weg geben, so blitzt doch mehr oder

weniger deutlich und oft ungewollt auf, wie schwierig

der Kontakt für die jüdischen Überlebenden ist, wie

viel Mühe sie sich geben müssen, die jungen Deutschen

nicht mit den Verfolgern gleichzusetzen. Manchmal

scheitern sie auch daran: „Sie erzählt mir davon, dass

sie weiß, dass uns, die junge deutsche Generation, keine

Schuld mehr trifft. Sie würde uns gerne verzeihen. Doch

dann meint sie offen und direkt, dass sie das nicht kann.

Denn die Kinder in Auschwitz waren auch vollkommen

schuldlos und wurden trotzdem von den Deutschen

umgebracht.“

Andere teilen ihr Misstrauen auch gegenüber den

Deutschen von heute indirekter mit: „Ich finde, ganz

Deutschland war damals schuld. Ja, denn die andern

haben weg geguckt. Aber die Deutschen von heute, die

fühlen sich jedenfalls nicht schuldig, die haben ja auch

nichts verbrochen.“ (Inge Stern) Sie fühlen sich nicht

schuldig, sagt Inge Stern, sie nimmt es in das subjektive

Gefühl der Deutschen zurück und sagt nicht, ob sie sel-

ber die Deutschen weiterhin für schuldig hält. Eine noch

indirektere, nur noch angedeutete Äußerung von weiter

bestehenden Vorbehalten gegenüber den Deutschen:

„Ich bin sehr gerne dort zu Besuch, aber leben möchte

ich dort nicht. Es gibt viele, die wieder ausgewandert

sind nach Deutschland, aber wir wollten nicht zurück.“

(Lea Jacobstamm)

Das Projekt macht deutlich, wie wertvoll die menschli-

che Begegnung mit Zeitzeugen für ein Verständnis der

menschlichen, persönlichen Dimension der jüngeren

Geschichte ist. Die emotionale Dimension dieser Ausei-

nandersetzung, der nötige Mut und die zu überwinden-

den Ängste werden in den Berichten fassbar. Reflektiert

und nicht beschönigend haben sich alle Beteiligten einem

Prozess ausgesetzt, in dem es nicht nur zu intensiven und

herzlichen Begegnungen kam, sondern auch heftige, kon-

flikthafte Emotionen aufbrachen.

Foto: Christian Oberlander