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„Und du siehst, dass du alleine bist.“

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

kürlichkeit“ quasi am eigenen Leib. Die vor dem Besuch

so skeptischen Lehrer, die diese Identifikation bis ins kör-

perliche Empfinden hinein wahrnehmen – sie sprechen

von einem „sinnlichen Erkenntnisprozess“ –, kommen zu

einer sehr weitgehenden Einschätzung von Gemeinsamkeit:

„Wir fühlten uns in die Einzelschicksale integriert“ (Zitate

Uschalt/Braune).

Neben dieser identifikatorischen Annäherung bis hin

zum Verwischen der Unterschiede steht das starke Erle-

ben von Differenz, bei allem großen Bemühen der alten

Menschen um Offenheit, Wärme, Liebenswürdigkeit

gegenüber den Jugendlichen. Das Erstaunen, die Über-

raschung, ja Verstörung, mit der die Schülerinnen und

Schüler auf die Interviews reagieren, begründet sich auch

auf der Unvergleichbarkeit der Erfahrungen der Zeit-

zeugen mit den eigenen Lebenserfahrungen. Von den

Lebenserfahrungen der Jugendlichen gibt es keine Brücke

zu den berichteten Grausamkeiten und tödlicher Willkür.

Sie machten „uns alle sprachlos: Trotz unseres Vorwissens

schien es unvorstellbar“. 

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Sehr schade ist, dass nur an wenigen – dafür umso erhel-

lenderen – Stellen die Interaktion und der Prozess zwi-

schen den fragenden Jugendlichen und den antwortenden

Überlebenden wiedergegeben ist – denn die Begegnungen

9 „Sie beschreiben einen Hunger, wie ich ihn mir gar nicht vorzustellen ver-

mag“ (Annika); „man kann sich nicht vorstellen, was die einzelnen Men-

schen erlebt bzw. gefühlt haben“ (Bianca Roth); „ […] dass sie (Rowena

Köhlers Eltern, G.B.) sich nicht vorstellen können, wie es ist, diesen Men-

schen gegenüberzusitzen und diese unglaublichen Geschichten zu hören“

(Rowena Köhler).

werden doch als das eigentlich Entscheidende und Ver-

ändernde dargestellt. In der Sequenz, in der die Schüler

ihre eigene Reaktion auf die Erzählung von Herrn Kaveh

beschreiben, steht dieses Erleben von Unvorstellbarkeit im

Vordergrund. Herr Kaveh erzählt, wie er nur durch uner-

klärliches Glück dem sicher erscheinenden Tod entging:

„Der Gestapo-Mann sagte lediglich ‚Das machst du nicht

mehr!‘ und ließ Kaveh gehen. Er (Kaveh) meinte, er hatte

einen Engel, der ihn beschützte.“

Nach diesem Satz waren erst einmal alle ruhig, so

berichten die Schülerinnen und Schüler. Für sie sei es

erstaunlich gewesen, zu merken, wie viel Glück die Men-

schen damals an einem Tag brauchten, um den nächsten

überhaupt miterleben zu können.

Hier fühlen sich die Schüler nicht „integriert“, sie erstau-

nen und verstummen in der Wahrnehmung des eigenen

Privilegiertseins, das sie mit dieser Erzählung nicht mehr als

Selbstverständlichkeit erleben. Es ist beeindruckend, dass

die Schülerinnen und Schüler sich dieser Erfahrung des

Jenseits der eigenen Vorstellungskraft nicht entzogen haben,

nichts schöngeredet haben

und den Bruch schweigend

ausgehalten haben.

Die existenzielle Erfah-

rung des Ausgeliefertseins an

Willkür und Zufall, in der

das eigene Leben verwirkt

ist oder erhalten bleibt, das

Erleben von Hunger, Folter

und gleichgültiger Vernich-

tung lässt die Überlebenden

einsam zurück, mit dem

Gefühl, nicht wirklich die

eigenen Erfahrungen mit-

teilen zu können. Nicht ein-

mal untereinander können

und wollen sie sprechen,

wie mehrere Bewohner des

Altenheims berichten. Von

diesem Gefühl der schrecklichen Einsamkeit der Überle-

benden berichtet Leopold Yehuda Maimon:

„Ich bin nach Krakau heimgekommen am 2. Februar

1945, das war genau zwei Wochen, nachdem ich geflohen

bin. Und der schwerste Tag in meinem Leben, das war die-

ser Tag. Ich bin in die Stadt gekommen, in der ich geboren

wurde, wo ich fast in jedem Haus Freunde hatte, eine Stadt

in der ziemlich viele Juden gelebt haben.

Und ich kenne sie nicht mehr. Die Stadt ist leer von

Juden. Ich habe keine Familie mehr, habe viele Kameraden

Foto: Christian Oberlander