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„Und du siehst, dass du alleine bist.“

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

verloren, viele Freunde. Es waren vielleicht 600 Juden, die

noch in Krakau waren, als ich wiederkam. Damals habe

ich gesagt, ich muss dort raus, ich kann so nicht leben.

In Auschwitz lebst du von einer Stunde zur zweiten.

Aber es war der erste Tag und du bist frei. Deine Stadt.

Und du siehst, wie schrecklich die Lage ist. Dass du alleine

bist.“ (Leopold Yehuda Maimon)

Maimon bezieht sich hier auf die Erfahrung, real allein,

ohne Freunde und Verwandte zu sein. Aber darüber hinaus

ist diese Einsamkeit noch viel umfassender zu verstehen:

Die Überlebenden erfahren sich nicht mehr als selbstver-

ständlichen Teil einer Gemeinschaft – diese Erfahrung,

sich nicht wirklich mitteilen, nicht mehr zurückkehren zu

können in die Welt, findet sich auch in vielen Erfahrungs-

berichten und literarischen Versuchen, etwa bei Primo

Levi, Imre Kertesz. 

10

Ist Schuld kein Thema?

Erschütterung und Verunsicherung werden die Begegnung

mit Überlebenden von Massenverbrechen immer bestim-

men. In dem Zusammentreffen von deutschen Nachfah-

ren der Täter und jüdischen Holocaust-Überlebenden sind

jedoch zusätzlich spezifische emotionale Reaktionen und

Belastungen erwartbar. Im Zentrum steht dabei die Angst

vor Schuld und Schuldvorwürfen. Schon direkt nach

Kriegsende wurde die Ablehnung der Kollektivschuld in

Deutschland zu einem affektiv hoch besetzten Anliegen,

die NS-Zeitgenossen erregten sich über die Ungerechtig-

keit einer generellen Verurteilung der Deutschen. Über der

Zurückweisung des Schuldvorwurfs von außen unterblieb

die innere Auseinandersetzung mit der Frage, was man sel-

ber mit den NS-Verbrechen zu tun hatte.

Für einen Teil der Nachkriegsgeneration machte die

emotionale Nähe zu den Täter-und Mitläufereltern eine

Befreiung aus dem Schulderbe unmöglich. Dessen Gegen-

wärtigkeit wurde einem spätestens im Kontakt mit Über-

lebenden deutlich. Ihr fortdauerndes Leid, ihre Traumata

machten die NS-Vergangenheit zu realer Gegenwart. Sie

hatten auch jetzt noch Angst, auch vor den Nachgebo-

renen, fürchteten das Nachwirken der NS-Ideologie bei

„Hitler’s Children“, 

11

glaubten nicht an deren Antifaschis-

mus. Die Kinder der Mitläufer und Täter fanden nicht

zu einer Haltung, die die Überlebenden nicht in einer

Position der Anklage und des Schuldvorwurfs einfror.

10 Primo Levi: Ist das ein Mensch,Frankfurt 1961; Imre Kertész: Roman eines

Schicksalslosen, Berlin 1996.

11 So der viel zitierte Titel einer amerikanischen Arbeit über die RAF von

Jillian Becker: Hitler’s Children, Philadelphia/New York 1977.

Sie kamen aus einer Position der Beschämung und des

Schuldgefühls nicht heraus, die zu einem unterwürfigen

und letztlich selbstbezogenen, nur in der eigenen Situa-

tion des Täterkindes verharrenden Verstummen führte.

Gefangen in den eigenen Nöten konnten viele kein leben-

diges und freies Interesse an der Person des Überlebenden

entwickeln. 

12

Für diese „Kinder der Täter“ hatte Bern-

hard Schlink die Unmöglichkeit eines gleichberechtigten

Gesprächs, ja womöglich einer Kommunikation über-

haupt beschrieben: „Wir sollen nicht meinen, begreifen zu

können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen,

was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der

Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht

in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunika-

tion macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur

in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann.” 

13

Oft genug führte dann die Angst, keinen Ausweg aus den

eigenen Schuld- und Schamgefühlen zu finden, zu einer

Vermeidung des Kontakts zu den Überlebenden. 

14

Dagegen wird nun für die Angehörigen der dritten

und vierten Generation konstatiert, dass sie aus dem Zir-

kel von Schuldgefühlen und deren Abwehr heraustreten

könnten und zu freien und unbefangenen Begegnungen

mit den Zeugen der Verbrechensgeschichte fähig seien.

Dies ermögliche ihnen ein direkteres emotionales Mit-

fühlen, meint der Historiker Christian Meier: „Die Nach-

kommen können sich so frei gegenüber dieser Geschichte

‚betroffen‘ zeigen, weil sie sich nicht mehr als Nachkom-

men betroffen fühlen.“ 

15

Seit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers zum

40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 hat sich die

Formulierung „Verantwortung für die Geschichte“ durch-

12 Von den Schwierigkeiten und dem großen emotionalen Druck in der Be-

gegnung zwischen deutschen und jüdischen Psychoanalytikern der Zeit-

zeugengeneration und ihrer Kinder berichtet das Buch H. Shmuel Erlich,

Mira Erlich-Ginor, Hermann Beland (Hg.): Gestillt mit Tränen – Vergiftet

mit Milch. Die Nazareth-Gruppenkonferenzen. Deutsche und Israelis – Die

Vergangenheit ist gegenwärtig, Gießen 2009.

Der israelische Psychologe Dan Bar-On initiierte 1992 den Gesprächskreis

„To Reflect and Trust“ zwischen Täter- und Opferkindern des Holocaust.

Vgl. Dan Bar-On, Konrad Brendler und A. Paul Hare: Da ist etwas kaputt-

gegangen an den Wurzeln… Identitätsformation deutscher und israeli-

scher Jugendlicher im Schatten des Holocaust, Frankfurt am Main 1997.

13 Bernhard Schlink: Der Vorleser, Zürich 1977, S. 99 f.

14 Zu den Emotionen im Umgang mit Überlebenden vgl. Gudrun Brockhaus:

Trauer um den Herrenmenschen. Emotionen und Tabus im Umgang mit

dem NS-Erbe. In: Margrit Frölich, Ulrike Jureit, Christian Schneider (Hg.):

Das Unbehagen an der Erinnerung Wandlungsprozesse im Gedenken an

den Holocaust, Frankfurt am Main. S. 101–117.

15 Christian Meier: Goldhagen und die Deutschen. In: Internationale Zeit-

schrift für Philosophie, H. 1, 1997, S. 119–123, hier S. 123.