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„Und du siehst, dass du alleine bist.“

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

gesetzt, immer einhergehend mit der expliziten Betonung,

dass die Nachfahren selbstverständlich keine Schuld an

der Verbrechensgeschichte der NS-Zeit treffe. Eine der

Schülerinnen, Franziska Schwendner, macht in ihrem

Kommentar zur Begegnung mit den jüdischen Überleben-

den auf den ritualisierten und beschwörenden Gebrauch

dieser Formel aufmerksam: Alle – die Eltern, die Lehrer,

die jüdischen Überlebenden versichern der Schülergruppe

immer und immer wieder, sie trügen keine Schuld. Aber

der Entlastungseffekt dieser Formel zerschellt in der Kon-

frontation mit dem fortdauernden Leid der Überlebenden

und ihrer Unfähigkeit und Unwilligkeit zu verzeihen und

sich zu versöhnen.

Die Rede von der Schuldlosigkeit der Nachkommen ist

in Bezug auf die Tat-Verantwortung eine blanke Selbst-

verständlichkeit, müsste gar nicht erwähnt werden. Wenn

man sich der eigenen Schuldlosigkeit immer wieder versi-

chern muss, belegt dies einen Bedarf nach Schuld-Entlas-

tung. Offenbar muss der Freispruch immer wieder erneu-

ert werden, weil man eben doch nicht wirklich überzeugt

ist, dass man sich als Deutsche[r] die NS-Verbrechen nicht

anzurechnen habe. Dafür, dass auch zumindest einige der

Enkel und Urenkel der Täter und Mitläufer sich nicht frei

und unbefangen fühlen in der Begegnung mit Überleben-

den des Holocaust und ihren Nachfahren, gibt es innere

und äußere Gründe.

Zum einen gehören zu unserer Identität auch Bezüge

auf unsere kollektive Vergangenheit, der Stolz auf histo-

rische Heldentaten, auf Opfer und nationale Besonder-

heiten. 

16

Die nationalsozialistische Verbrechensgeschichte

taugt jedoch nicht bei der Suche nach einer guten, mora-

lisch akzeptablen kollektiven Vergangenheit, die unsere

Identität stützen könnte. Goethe und Fußball ja, aber die

NS-Vergangenheit und der Holocaust werden gern aus

dem Wir-Gefühl ausgesondert, auch wenn sie ebenso Teil

davon sind. 

17

Zum anderen bildet sich unsere Identität auch dadurch,

wie wir von anderen wahrgenommen werden, und zumal

in der Fremde werden wir als Angehörige eines nationalen

Kollektivs stereotypisiert. Die jüdischen Opfer des Holo-

caust haben die Erfahrung gemacht, dass die Nazis von

einer Mehrheit der Deutschen unterstützt und jedenfalls

16 Zur Bedeutung des Kollektivs und seiner Geschichte für die Identitätsbil-

dung des Einzelnen vgl. die Arbeiten von Volkan. Vamik Volkan: Blindes

Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Ter-

rors. Gießen 2005.

17 So die These von Hermann Beland: Kollektive Trauer – Wer oder was be-

freit ein Kollektiv zu seiner Trauer? In: Franz Wellendorf/Thomas Wesle

(Hg.): Über die (Un)Möglichkeit zu trauern, Stuttgart 2009, S. 243–262.

nicht gehindert wurden, als sie eine rassistische Klassifi-

zierung in die Vernichtungspraxis übersetzten. Viele von

ihnen fürchten, dass sie diese destruktiven Potenzen auch

an ihre Nachfahren weitergegeben haben. Auch ohne dass

sie es beabsichtigen, vielleicht sogar gegen den expliziten

Wunsch nach einem unbefangenen und guten Verhältnis

zu den Deutschen und vor allem zu deutschen Kindern

und Jugendlichen kann es eine emotionale Barriere geben,

können Angst und Hass gegenüber dem „Volk der Täter“

weiterbestehen. 

18

Wie die Berichte über die Israel-Reise deutlich zeigen,

wirken entgegen der behaupteten Freiheit und Unbetrof-

fenheit der deutschen Nachfolgegenerationen auch bei

ihnen Befangenheit und Angst vor Hass und Verurteilung

nach, die Spuren sind vor allem in den Formulierungen

der begleitenden Lehrkräfte in den obigen Zitaten deut-

lich sichtbar. 

19

Hinzu kommt die Besorgnis, die intervie-

wenden Schülerinnen und Schüler – Angehörige eher der

vierten Generation – könnten „fehlendes Einfühlungsver-

mögen“ an den Tag legen, vielleicht alle Verantwortung

zurückweisen.

Wie gezeigt, macht der Bericht über die Vorerwartun-

gen die Angst vor einer Begegnung der Jugendlichen mit

den jüdischen Überlebenden spürbar. Ein Hinweis auf

das Ausmaß dieser Ängste ist dann die wirklich enorme

Erleichterung des Lehrerteams und auch der Seminar-

teilnehmer selber, als sie im Altenheim so herzlich, mit

Wärme, Offenheit, Humor, Gesprächsbereitschaft und

großem Interesse für das Interviewprojekt aufgenom-

men werden und sich die z.T. sehr alten Menschen in

den Interviews in die schmerzlichen und verstörenden

Erinnerungen an Verfolgung und Mord hineinbegeben.

Bengisu Karabacak ist es wichtig zu betonen, dass das

Schuldthema keine Rolle gespielt hätte – und bestärkt

durch diese explizite Verneinung aber indirekt dessen

Bedeutsamkeit auch für sie persönlich: „Die Menschen

haben so viel zu erzählen, von so vielen grausamen Din-

gen, aber sie sind dennoch voller Wärme und haben uns

so gut behandelt. Es war mir wichtig, zu sagen, dass man

uns keine Schuld gibt und dass wir nicht als ‚Wiedergut-

machung‘ hingeflogen sind. Sondern aus reinem Inter-

18 Über seinen Kampf mit dem Hass auf Deutschland spricht Leopold Yehuda

Maimon, er behauptet, er hätte ihn gewonnen: „Und ich habe damals ei-

nen großen Hass gehabt auf Deutschland. Aber heute will ich nicht mehr

hassen. Ich mache alles und ich spreche mit jungen Leuten, und es ist

nicht wichtig, ob es Deutsche oder Araber oder Russen sind. Weil ich nicht

glaube, dass man die Welt zum Hassen erziehen kann. Man kann die Welt

erziehen zur Liebe.“

19 Vgl. Johannes Uschalt/Tina Braune, die projektleitenden Lehrkräfte.