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II 1 Die Flexible Grundschule im Kontext der Theorie der Grundschule
1 Die Flexible Grundschule im Kontext der Theorie der
Grundschule (Prof. Dr. Dr. Werner Wiater)
1.1 Erziehung und Bildung – der
gesellschaftliche Auftrag an die
Grundschule
Die Schule in Deutschland hat von der Gesell-
schaft einen Erziehungs- und Bildungsauftrag ge-
genüber Kindern und Jugendlichen erhalten, den sie,
anknüpfend an die familiäre und vorschulische Per-
sönlichkeitsentwicklung des Kindes, schulformspe-
zifisch und Institutionen übergreifend ausübt. Für
die Flexible Grundschule stellt sich hier die Frage,
welche besonderen Akzente sie bei der Ausübung
des Erziehungs- und Bildungsauftrags setzen kann.
In seinem Buch „Die Grundschule als Bildungs-
institution“
1
stellt G. Schorch diese Schulform in
den Vergleich mit anderen Bildungsinstitutionen
und charakterisiert sie mit den Bezeichnungen
grundlegende Schule,
•
d. h., die Grundschule
ist eine Schule, die einerseits das Fundament
für darauf aufbauende weiterführende Schulen
legt und andererseits Kindern grundlegende
Erziehungs- und Bildungserfahrungen ermög-
licht. Er sieht ihre Funktion in einer „Schulpro-
pädeutik“, was die Befähigung zum schulischen
Lernen und die Vermittlung von Basiskompe-
tenzen anbetrifft, und in einer „Lebenspro-
pädeutik“, worunter er Lebenshilfe sowie die
Anbahnung von Selbstständigkeit, Mündigkeit
und Urteilsfähigkeit versteht;
erste Schule
•
im Schulsystem, d.h., die Grund-
schule ist eine Schule, bei der zum Kindsein das
Schüler- /Schülerinnensein hinzukommt, was
Übergangsprobleme mit sich bringt und Fragen
zur Schulbefähigung des Kindes aufwirft;
gemeinsame Schule
•
, d. h., die Grundschule ist
eine Schule, die das Problem der Heterogenität
der Kinder bewältigen und als Lernchance pro-
duktiv nutzen muss, die Ziel- und Leistungsdif-
ferenzierung vorsieht und Polaritäten wie Inte-
gration/ Individualisierung oder gemeinsames
Lernen/ individuelles Lernen im Unterricht und
im Schulleben zu bewältigen hat;
Kinderschule
•
, d.h., die Grundschule ist eine
Schule, die aufgrund der vielfältig unterschied-
lichen Lebens- und Lernerfahrungen der heuti-
gen Kinder das Prinzip der Schülerorientierung
nur mittels starker Differenzierung realisieren
kann, die als Lebensstätte für Kinder konzi-
piert werden muss und die in einer anregen-
den Spiel- und Lernwelt ihr didaktisch-pädago-
gisches Potenzial entfalten sollte.
In allen genannten Punkten setzt die Flexible
Grundschule eigene Akzente. Sie trägt der Hete-
rogenität und Individualität der Schülerinnen und
Schüler didaktisch durch differenzierte Lernum-
gebungen Rechnung, sie räumt den Kindern die
Entwicklungs- und Lernzeit ein, die sie brauchen,
um in der Anfangsphase schulischen Lernens die
grundlegende Bildung und die Schulbefähigung er-
folgreich zu erlangen, sie stärkt die Gemeinschaft
der Kinder durch kooperative Lernformen (soziales
und tutorielles Lernen) und lässt die Schülerinnen
und Schüler Kind sein – beim Lernen mit allen Sin-
nen, durch Nachahmen, Experimentieren und Ent-
decken, im Gespräch untereinander und mit der
Lehrkraft, durch Üben sowie auch durch Anregung,
Steuerung und Feedback seitens der Lehrkraft.
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1.2 Der Erziehungsauftrag der
Grundschule
Die Grundschule ist – nach dem Kindergar-
ten – ein Ort formaler Erziehung, der zur non-
formalen Erziehung des Elternhauses der Kinder
hinzukommt und der die informelle Erziehung,
wie Kinder sie beim Spiel mit anderen in ihrer
Freizeit oder über die Medien, die sie nutzen, er-
fahren, beachten muss. Nach den Bayerischen
Leitlinien für die Bildung und Erziehung von Kin-
dern bis zum Ende der Grundschulzeit (BayBL)
ist das oberste Bildungs- und Erziehungsziel „der
eigenverantwortliche, beziehungs- und gemein-
schaftsfähige, wertorientierte, weltoffene und
schöpferische Mensch“, der fähig und bereit ist,
„in Familie, Staat und Gesellschaft Verantwortung
zu übernehmen“, und der „offen für religiöse und
weltanschauliche Fragen“ ist.
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